Ist der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff wirklich ein Erfolg?

Wer Fachartikel im Internet oder in Fachzeitschriften liest, kommt an den Lobeshymnen zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff kaum vorbei. Tenor ist oft, dass

  1. Hilfebedürftige eher Leistungen bekommen würden, als früher,
  2. die Pflegegrade seien gerechter als die Pflegestufen und
  3. die Begutachtungen seien jetzt viel entspannter…

Aus meiner Perspektive, der Pflegeberaterin und Pflegesachverständigen, die Menschen vor allem nach der Begutachtung im Widerspruchsverfahren vertritt, kann ich dies nicht bestätigen. Deshalb möchte ich auf die drei Punkte, die ich oben aufgeführt habe, einmal eingehen:

1. Bekommen Hilfebedürftige eher Leistungen?
Es stimmt, der Pflegegrad 1 wird relativ schnell zuerkannt. Allerdings ist die Leistung, die dahinter steckt, gering und hilft in vielen Fällen nicht wirklich weiter.
So reicht der Entlastungsbetrag von 125 € monatlich bspw. für einmal wöchentliches Duschen durch den Pflegedienst. Je nach Region und Pflegedienst muss der Pflegebedürftige auch noch etwas draufzahlen.
Ein Anspruch auf Wohnungsanpassung und zum Verbrauch bestimmte Pflegehilfsmittel soll die Leistungen „rund“ machen.
Kurzzeitpflege und Verhinderungspflege gibt es bei Pflegegrad 1 allerdings nicht.

Fazit: Geeignet ist der Pflegegrad 1 vor allem dazu, den Hilfebedürftigen zu suggerieren, ihnen würde geholfen, weshalb es keinen Grund zur Klage gebe…
Und viele Menschen, die den Pflegegrad 1 erhalten, wehren sich nicht so, wie Menschen, denen (offen) nichts gewährt wird.

2. Sind die Pflegegrade gerechter als die Pflegestufen?
Die Tatsache, dass jetzt die Einschätzung der Selbstständigkeit und Fähigkeiten einer Person für den Grad der Hilfebedürftigkeit entscheidend ist, wird als die große Verbesserung gegenüber der früheren Einschätzung des Zeitbedarfs gefeiert.
Das ist es, was die Einschätzung des Hilfebedarfs „gerechter“ machen soll.
Tatsächlich ist es so, dass Menschen mit einer eingeschränkten Alltagskompetenz im neuen System besser gestellt sind als früher. Aber sie sind nicht nur besser gestellt als früher. Sie haben im neuen System auch gegenüber den rein körperlich Erkrankten einen erheblichen Vorteil, wenn es darum geht, in einen höheren Pflegegrad eingestuft zu werden, als in Pflegegrad 2.
Je nach Konstellation kann es jetzt einen höheren Pflegegrad ausmachen, ob und wie oft Hilfe bei der Medikamenteeinnahme notwendig ist oder nicht. – Genau das ist einem meiner Kunden passiert!

Fazit: Nachdem die Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz in den letzten 20 Jahren angeblich benachteiligt wurden (was ich immer noch bestreite, da die alten BRi nur hätten richtig angewendet werden müssen), werden jetzt (vielleicht für die kommenden 20 Jahre?) die „nur“ körperlich Erkrankten gegenüber den Menschen mit eingeschränkter Alltagskompetenz benachteiligt.
Eine Verordnung von Medikamenten kann für den Pflegegrad 4 entscheidend sein…
Ich stimme daher zu, dass die Reform zu einem Wechsel geführt hat. Um eine echte Verbesserung handelt es sich meiner Meinung aber nicht.

3. Sind die Begutachtungen viel entspannter?
Ja, definitiv. – Vor allem sind sie für die Gutachterinnen und Gutachter entspannter! Die lassen sich jetzt den Tagesablauf erzählen, fragen hier und da mal nach und lassen sich meistenteils nicht in die Karten schauen. Zumeist muss man sich anhören, dass „die Informationen noch ausgewertet werden müssen“, wenn man nach einem Ergebnis fragt. – Wir Profis zumindest wissen, dass das Quatsch ist. Das Ergebnis steht in der Regel am Ende der Begutachtung fest.
Entspannter scheinen die Begutachtungen zunächst auch für die Hilfebedürftigen und ihre Angehörigen zu sein, denn sie können die Situation überhaupt nicht mehr einschätzen, glauben den Predigten von den vielen Verbesserungen und reiben sich schließlich die Augen, wenn sie den Bescheid der Kasse vorliegen haben.

Fazit: Die nette Gutachterin und der freundliche Gutachter entpuppen sich erst im Nachhinein als gar nicht so nett. Die Einschätzungen der Selbstständigkeit und Fähigkeiten ist teilweise genauso schwammig, wie die Zeitwerte von früher. Denn letztlich entscheidet der Gutachter oder die Gutachterin, was im Gutachten steht. Und die Erfahrung zeigt bisher: das muss nicht immer mit dem übereinstimmen, was in der Begutachtung besprochen wurde.

Tipp: Wenn eine Begutachtung ansteht, vertrauen Sie nicht darauf, dass seit dem 01.01.2017 für Hilfe- und Pflegebedürftige alles besser und einfacher geworden ist! Es gibt sie immer noch, die Gutachter, die finden, dass Angehörige oder Pflegebedürftige übertreiben und die Gutachten, bei denen man sich während der Lektüre fragt, wo man eigentlich war, als alle diese Sachen gesagt wurden, die da im Gutachten stehen….

Wenn Sie Fragen zum Widerspruch, zur Pflegeeinstufung, zur Organisation der häuslichen Pflege, zum Umgang mit Ihrem demenzerkrankten Angehörigen, zu Ihrer Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung oder anderen pflegerelevanten Themen haben, kann ich Ihnen bestimmt helfen. Ich berate Sie professionell und kostengünstig.
Also, sprechen Sie mich bitte an!